Vater und Tochter

Schwimm mein kleiner Freund – schwimm

Schwimm, mein kleiner Freund – schwimm!

Kehren wir zurück in das kleine Steinhäuserl im irgendwo.

Zwischen endlosen Wiesen und Feldern umrahmt von großen Wäldern, mit all den Elfen und Zauberfeen, die ihre helle Freude an und mit unserer kleinen Ella haben. 

Es gibt Momente des reinen Glückes, einem Gefühl, wo es Ella vorkommt, als würde ihr Herz vor Freude nur so hüpfen. Wie wichtig diese Momente sind, wird sie erst sehr viel später in ihrem Leben verstehen. 

Mit dem Vater steht sie schlotternd im eiskalten Wasser des Baches unter den Fischteichen, um Forellen mit der bloßen Hand zu fangen. Der Vater zeigt es ihr vor. Mit gespreizten Beinen und gekrümmten Rücken steht er, die Hosenbeine bis zum Knie hochgekrempelt im Bach. Blitzschnell greift er mit beiden Händen zu und schon hat er eine Forelle. Mit leuchtenden Augen betrachtet er das kraftvolle Tier, das jetzt ganz ruhig in seinen Händen liegt. Es scheint zu ahnen, dass ihm von diesem Menschenkind nichts Böses droht. Dann gibt er ihm ein Bussi auf die Schnauze. Behutsam legt er das Fischlein ins Wasser, öffnet seine Hände und entlässt es lachend in die Freiheit. „Schwimm mein kleiner Freund, schwimm.“ 

„Papa, Papa“ kreischt Ella aufgeregt „Ich hab’ einen gefangt“. 

„Siehst du Schnurli, alles geht, wenn man will, und jetzt lass ihn frei, sonst stirbt er noch vor lauter Angst.“ Ella traut sich nicht, dem zappelnden Fisch ein Bussi zu geben. Sie setzt ihn vorsichtig ins Wasser, öffnet ganz langsam ihre Hände und sagt „Schwimm mein kleiner Freund, schwimm.“ Lächelnd schaut ihr ihr Vater zu und denkt ganz Stolz bei sich. „Das ist mein Schnurli“ 

Sehnsüchtig wartet sie jedes Jahr auf die Schwammerlzeit und darauf, mit dem geliebten Vater in die „Schwämm“ zu gehen.
Sie durchstreifen die Wälder.
„Du gehst da und ich geh da.“ Teilt sie den Wald in zwei Suchzonen auf, aber immer so, dass sie noch etwas von ihrem Papa sieht. Wenn sie ihn mal aus den Augen verliert, vergisst sie ihren noch so schönen Schwammerplatz und macht sich auf die Suche.

„So Schnurli es ist genug, wir holen uns nur soviel, wie wir auch essen können.“
„Ja Papa, die Waldfeen brauchen ja auch was zum Jausnen.“
„Jetzt tun wir sie schön putzen und dann gehen wir zwei auch jausnen“.
Sie setzen sich ins weiche Moos und säubern jeden einzelne noch so kleinen Pilz.
„Gehn wir jetzt jausnen?“
Sie liebt es beim Vater zu sitzen, geduldig zu warten, bis er Brot, Speck und Zwiebel fein säuberlich geschnitten hat. Nicht eine Sekunde lässt sie ihn dabei aus den Augen.
„So Schnurli, jetzt schnabulieren wir“. Das ist das Signal für die schönsten Momente eines wunderbaren Tages mit ihrem Held, ihrem über alles geliebten Vater. 

Ihre endlose Freiheit findet jäh ein Ende, als die Schule beginnt. 

Die ersten 3 Jahre im alten Schulhaus sind noch ein echtes Abenteuer. Im Oberstock befindet sich eine Theaterbühne mit bunten Kostümen, die nur darauf warten, dass die bunte Kinderschar ihnen Leben einhaucht.

In den Schulstunden sitzen die Kleinen in den ersten Bänken, die Acht und Siebtklässler sitzen in den hinteren Reihen. Die Knie vor ihren Nasen, weil sie aus den kleinen Bänken seit über 4 Jahren herausgewachsen sind. 

In den Pausen nehmen die Großen die Kleinen auf ihre Schultern und tragen sie den geraden Weg quer durch den Bach in den Markt hinein zur Stolwerkmizzi. 

Die Stolzwerkmizzi residiert in einem Häuschen wie aus Grimms Märchen, wo sie Zuckerl, Stolwerk und allerlei Köstlichkeiten verkauft. Der Laden ist vom Boden bis zur Decke mit Süßigkeiten voll geräumt und doch bemerkt das krumme, Mütterchen jeden, der lange Finger bekommen will. Mit Schimpf und Zetter landet der Unhold vor der Tür und darf nie, nie mehr in ihr kleines Zuckerzauberland. Die Kinder überlegen es sich dreimal, ob sie wegen Zuckerl stibitzen, mit so einem Makel belegt werden wollten. Den Laden der Stolwerkmizzi nicht betreten dürfen, war wohl Höchststrafe. 

Das Steinhäuserl war indes um ein Gastzimmer größer geworden. Mandi wollte Gastwirt werden. 

Mit der ersten Kiste Bier, die ihm zur Eröffnung von Freunden geschenkt wird und die er postwendend verkauft, kaufte er die zweite Kiste Bier.  Die Namen der Gäste stehen auf den Bierkisten, die nicht selten an einem einzigen Tag ausgetrunken werden. 

Marie hat zu ihrem ganzen Verdruss – sie hatte verzweifelt versucht, die Schwangerschaft selbst zu beenden – ihr 5. Kind im Jahr der Gasthauseröffnung zur Welt gebracht. 

Einen Jungen, zu dem sie dann eine ganz besonders innige Beziehung haben wird, sah sie in dem kleinen Peter, ihren Erstgeboren, der jetzt endlich wieder bei ihr ist.

Nun ist Marie Mutter von 4 kleinen bis kleinsten Kindern und Gastwirtin, deren Tag um halb 7 beginnt und meist spät in der Nacht endet, weil ihr Ehemann nicht zu Hause ist und ein paar Gäste nicht nach Hause gehen wollen. 

Mandi kann jetzt noch nicht Vollzeitwirt sein. Um die Familie versorgen zu können, beliefert er nach wie vor Krankenhäuser mit frischer Wäsche und ist auch sonst nicht so gerne bei seiner stets unzufriedenen Frau. 

Ella mit ihren jetzt fast 8 Jahren liegt Nacht für Nacht wach und wartet….

Sie horcht auf jedes Geräusch, welches die Heimkehr des geliebten Vaters ankündigen könnte. Hört sie ein Rascheln, eine Autotüre oder den Kies knirschen, setzt sie sich mit klopfenden Herzen im Bett auf, hält den Atem an und lauscht angestrengt. Es pocht in ihrem Kopf, als würde sich eine Horde Bergleute einen Weg ins Freie verschaffen wollen. 

Erst wenn das wütende Geschrei der Mutter zu vernehmen ist, weiß sie – Papa ist da. Selten reagiert ihr Vater auf die bitteren Vorwürfe seiner Frau. Wenn es ihm ganz zu arg wird, dreht er am Absatz um und geht wieder. Leise fällt dann die Tür ins Schloss und er kommt wieder für viele Tage nicht nach Hause. Das Warten beginnt vom Neuen-Horchen, nicht schlafen, Herzklopfen, Angst, unendlich große Angst, dass ihr geliebter Papa vielleicht sogar einmal gar nicht mehr nach Hause kommt.

So hat Ella begonnen, über ihre Eltern zu wachen. 

Sie musste genau den Zeitpunkt erwischen … wenn sie zu früh zu den streitenden Eltern lief, ging sie unter in dem Geschrei und Gezetter. Wenn sie zu spät war, war der Vater bei der Tür schon draußen und die Mutter erwischte sie, um die ganze Wut auf ihr abzuladen.
Wenn der Vater bereits am Weg ins Bett war, wurde sie vom ihm gescholten: „Geh Schnurli sei nicht so dumm, ich geh`schon ins Bett“.
Vor dem geliebten Papa als „dumm“ zu gelten, ist für die Kleine das Schlimmste.
Also gilt es ganz furchtbar auf der Hut zu sein. Da, wo andere Kinder fest schlafen und im Land der Träume verweilen, spielt sich für Ella jede Nacht ein wahrer Albtraum ab. Wenn der Vater wieder gehen will, läuft sie barfuß in ihrem Pyjama, flink wie ein Wiesel, hinüber in die Küche, setzt sich auf die Schuhe des Vaters und umklammert seine Beine. Sie fleht inniglich und mit tränennassen Gesicht:
„Papi bitte, bitte geh nicht weg.“
Meist bleibt der Vater, weil er es nicht übers Herz bringt, sein Schnurli mit der tobenden Mutter zurückzulassen und weil er wohl ahnt, dass Ella, das ganze Drama ihrer verfluchten Ehe abbekommt.

Die Liebe ihrer Mutter bringt es Ella ohnehin nicht ein, egal ob ihr Vater geht oder bleibt. 

An den Tagen nach so gruseligen Auseinandersetzungen straft Marie nicht nur ihren Mann, sondern auch ihre Tochter mit absolutem Schweigen. Sie spricht kein Wort.
Angstvoll fragt Ella:  „Mama soll ich dir einen Kaffee machen?“ Keine Antwort „Mama soll ich die Wäsche bügeln?“ Schweigen.
Ella würde alles tun, wenn die Mutter nur wieder reden würde, mit ihr, aber vor allem mit dem Vater. Ja, sogar Schimpf und Zetter ist ihr lieber als dieses kalte, harte Schweigen, diese eiserne Missachtung, die den Papa unweigerlich wieder aus dem Haus treiben wird.  

Ein Teufelskreis, den die Kleine nicht durchbrechen kann.  

Wenn sie in der Schule nach einer durchwachten Nacht einschläft, schlägt ihr der Lehrer auf den Hinterkopf, der ohnehin von der Nacht noch dröhnt und pocht. „Geschlafen wird zu Hause“ fährt der unbarmherzige Mann Ella mit schneidender Stimme an und die ganze Klasse lacht. 

Am Nachmittag schleicht sie wie ein geprügeltes Hündchen zu Lila. Meist wartet Jesus schon auf sie. „Komm her Kleine, leg dich ein wenig hin“ Er bettete ihren Kopf auf seinen Schoß und lässt sie erst einmal ein wenig schlafen. Lila gibt mit ihrem dichten Blätterdach Schutz und Geborgenheit.