Wenn ein Kindlein ein Kind bekommt Kapitel 3
Marie weinte und weinte. Niemand konnte sie beruhigen. Selbst der Vater konnte ihr die bitteren Tränen nicht weg prügeln. Jede noch so harte Strafe der Eltern war nichts zu den Kummer und der Sehnsucht die sie spürte, seit Sie ihre große Liebe verlassen musste.
Sicher können auch Sie werter Leser sich an Ihren ersten wirklich großen Liebeskummer erinnern. Besonders schlimm ist es dann, wenn sich unerfüllte Liebe in das ganze Sein eines sehr jungen Menschenkindlein einfindet.
Kaum jemand nimmt dieses Leid, wogegen es keine Medizin, keine zeitliche Begrenzung gibt, wirklich ernst. Schwärmerei, Kindergram, das geht schon vorbei und was weißt den Du schon von der Liebe? Die Zeit heilt alle Wunden….all das sind wenig tröstliche Weisheiten die den Schmerz kein bisschen lindern.
Einzig Schneidermeister Toni, ein warmherziger, ruhiger Mann der sich zeitlebens ein Töchterchen wie Marie gewünscht hätte, bemerkte die unübersehbaren Veränderungen seines Lehrmädchens.
Eines Nachmittags Anfang November, es war schon dunkel draußen, legte der Meister ein Scheit Holz im kleinen Eisenofen nach, dann trat er ruhig vor das verzagte Kind. Sanft hob er ihr Kinn. Er schaute in die traurigsten Augen, in die er jemals geschaut hatte. „Ja, Dianei was is den los mit dir?“
Völlig unerwartet warf sich die sonst so zurückhaltende Marie in die Arme des Meisters und weinte bitterlich. Der Kummer, die Ausweglosigkeit zu Hause, das ständige Erbrechen, die Einsamkeit und die Angst, dass sich ihre Befürchtung, schwanger zu sein bewahrheitet war jetzt einfach zu viel für die Kleine. Sie war am Ende ihrer Kräfte.
Nach einer kleinen Ewigkeit erzählte Marie dem alten Toni von Ihrer Liebe, den zauberhaften Tagen am Land und dass sie seither immer krank war. Sie erzählte von den düsteren Stunden zu Hause und davon, dass Sie nicht mehr ein und aus wusste.
Marie glaubte nicht an Gott, das hatte ihr der Vater heraus geprügelt, die Mutter heraus geschrien, aber nach dem Gespräch mit ihrem Meister erfüllte so etwas wie Hoffnung ihr Herz und Ihre Gedanken.
Obwohl ihr der alte Mann nicht sagte was er zu tun gedachte, vertraute sie ihm. Warum? Sie wusste es nicht. Aber hatte sie den eine Wahl?
Wie jeden Abend, wenn Sie sich auf den Weg nach Hause machte, ging sie über die große Brücke. Wie jeden Abend starte sie in den kalten braunen Fluss der kraftvoll gegen die mächtigen Pfeiler drückte. Wie jeden Abend dachte sie daran, ihrem Leid ein Ende zu setzen, wie jeden Abend verachtete Sie sich für ihre Feigheit, diesen letzten Schritt ins Leere nicht zu wagen.
An diesem Abend war sie sich plötzlich ganz sicher, dass in ihrem Bauch ein neues Leben heranwuchs. An diesem Abend schlich sich zum ersten Mal seit den glücklichen Sommertagen ein kleines Lächeln in ihr verweintes, schmales Gesicht. Sollen sie mich doch tot prügeln, dachte sie trotzig, ich habe etwas von meinem geliebten Mandi und niemand wird es mir nehmen, niemand. Muss ich sterben, nehme ich ihn mit. Sanft streichelte sie über ihren Bauch, der sich bereits zu wölben begann. Sie war sich sicher, ihr Kindlein ist ein Junge.
Heiligabend 1960 in der Schneiderwerkstatt von Meister Toni.
Marie war ganz versunken in ihren neuen Auftrag, als zaghaft die knarrende Holztür geöffnet wurde. Vor der Tür stand ein junger Mann der zu groß war, um auch sein Gesicht zu zeigen.
Mit sanfter Gewalt schob der alte Toni den jungen Kerl vor sich her.
„Jetzt geh schon du langer Lulatsch.“
Mandi musste sich bücken um in die Nähstube eintreten zu können.
Ungläubig starrte Marie zu dem Szenario an der Tür.
„ Da schau, der will dich heiraten, besser gesagt der muss dich heiraten, sagst eh ja, gut dann ist das auch erledigt, am 6. ist Hochzeit, die Unterschrift bekommst von mir, Deine Leut sind froh, wenn Sie ein Goscherl weniger füttern müssen, im März machst du die Abschlussprüfung. An der Arbeit bist eh schon dran.
Was die Eltern von dem Burschen sagen, ist seine Sache, er ist schließlich schon 21 also…..“
Jetzt holte der Meister zum ersten Mal tief Luft. Schweißperlen standen in seinem faltigen, gutmütigen Gesicht und man sah ihm an, dass die letzten Wochen ein Kraftackt war, der ihn an seine Grenzen gebracht haben.
Noch einmal setzte der an.
„Wenn ich bis zur Geburt des Kinderl noch leb, möcht ich es zur Taufe tragen. Das erbitte ich mir von Euch. Kraftlos sank er auf den Stuhl. Der alte Mann begann zu weinen. Vor Rührung, vor Freude aber auch vor Trauer, weil er bald gehen musste – jetzt, wo ihn endlich jemand brauchte.
Hilflos stand der Mandi da, fassungslos die junge Marie. In ihrem Bauch rührte sich das neue Leben. Was für ein Heiliger Abend 1960.